Die Geheimnisse des Universums erforschen: Gravitationswellen-Detektoren starten ihren nächsten Beobachtungslauf

24. Mai 2023

Heute beginnt die LIGO-Virgo-KAGRA (LVK)-Kollaboration einen neuen Beobachtungslauf mit verbesserten Instrumenten, neuen und noch genaueren Signalmodellen und fortschrittlicheren Datenanalysemethoden. Die LVK-Kollaboration besteht aus Forschenden aus der ganzen Welt, die ein Netzwerk von Observatorien – LIGO in den USA, Virgo in Europa und KAGRA in Japan – nutzen, um nach Gravitationswellen (oder: Wellen in der Raumzeit) zu suchen, die durch kollidierende Schwarze Löcher und andere extreme kosmische Ereignisse erzeugt werden. In den letzten Jahren haben sich Wissenschaftler:innen des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Potsdam und Hannover und der Leibniz Universität Hannover auf diesen Beobachtungslauf vorbereitet: Sie haben neuartige Wellenformmodelle und Datenanalysemethoden entwickelt, um mehr Informationen aus den Daten abzuleiten und sie decken wartungsbedingte Beobachtungspausen der anderen Detektoren ab.

Dieser O4 genannte Beobachtungslauf soll die Gravitationswellen-Astronomie auf die nächste Stufe heben. O4 wird am 24. Mai beginnen und 20 Monate dauern, einschließlich einer bis zu zweimonatigen Pause für Wartungsarbeiten. Es wird die bisher empfindlichste Suche nach Gravitationswellen sein. LIGO wird seinen Betrieb am 24. Mai wieder aufnehmen, während Virgo im Laufe des Jahres hinzukommen wird. KAGRA wird ab dem 24. Mai einen Monat lang teilnehmen und dann nach einigen Nachrüstungen im Laufe des Jahres wieder in Betrieb gehen.

„Dank der Arbeit von weltweit mehr als tausend Menschen während der letzten Jahre werden wir den bisher tiefsten Einblick in das Gravitationswellen-Universum erhalten“, sagt Jess McIver, stellvertretende Sprecherin der LIGO Scientific Collaboration (LSC). „Eine größere Reichweite bedeutet, dass wir mehr über Schwarze Löcher und Neutronensterne erfahren werden und erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, etwas Neues zu finden. Wir sind sehr gespannt darauf, was es da draußen zu sehen gibt.“

Der Virgo-Detektor wird seine Empfindlichkeit weiter steigern, bevor er später im Jahr an O4 teilnimmt. „In den letzten Monaten haben wir verschiedene Rauschquellen identifiziert und gute Fortschritte bei der Empfindlichkeit gemacht, aber die Zielempfindlichkeit ist noch nicht erreicht“, erklärt der kürzlich gewählte Virgo-Sprecher Gianluca Gemme. „Wir sind davon überzeugt, dass die größtmögliche Empfindlichkeit des Detektors das beste Mittel ist, um dessen Entdeckungspotenzial zu maximieren.“

KAGRA läuft jetzt mit der für den Beginn von O4 geplanten Empfindlichkeit. Jun'ichi Yokoyama, Vorsitzender des wissenschaftlichen Kongresses von KAGRA, sagt: „KAGRA ist der weltweit erste Detektor der 2,5. Generation, der 20 Jahre nach LIGO in Betrieb genommen wurde. Wir werden einen Monat lang an O4 teilnehmen und dann die Inbetriebnahmephase fortsetzen, um die Empfindlichkeit bis zu unserer ersten Entdeckung weiter zu verbessern“.

Tiefer in das Universum hineinhören

Mit der erhöhten Empfindlichkeit der Detektoren wird O4 einen größeren Teil des Universums beobachten als frühere Beobachtungsläufe. Die LIGO-Detektoren werden zu Beginn von O4 etwa 30 % empfindlicher sein als zuvor. Diese erhöhte Empfindlichkeit wird zu einer höheren Rate an beobachteten Gravitationswellensignalen führen, so dass alle 2 bis 3 Tage eine Verschmelzung entdeckt werden dürfte. Außerdem wird die verbesserte Empfindlichkeit dazu führen, dass mehr physikalische Informationen (einschließlich einzigartiger astrophysikalischer und kosmologischer Informationen) aus den Daten extrahiert werden können. Diese verbesserte Signalerfassung wird es den Wissenschaftler:innen ermöglichen, Einsteins allgemeine Relativitätstheorie zu überprüfen und die tatsächliche Verteilung toter Sterne im lokalen Universum zu bestimmen.

Der weiße Pfeil zeigt die Ausrichtung des Spins des Schwarzen Lochs, deren Änderung im Verlauf der Verschmelzung sichtbar ist. Neu entwickelte Modelle können diese Spin-Präzession genauer verfolgen, so dass sich aus den während O4 beobachteten Signalen mehr Informationen ableiten lassen.

Spin- und Bahnpräzession in einer numerischen Simulation einer Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher

Der weiße Pfeil zeigt die Ausrichtung des Spins des Schwarzen Lochs, deren Änderung im Verlauf der Verschmelzung sichtbar ist. Neu entwickelte Modelle können diese Spin-Präzession genauer verfolgen, so dass sich aus den während O4 beobachteten Signalen mehr Informationen ableiten lassen.
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„Der deutsch-britische Gravitationswellen-Detektor GEO600 hat in den vergangenen drei Jahren gleichzeitig Beobachtungen und Wartungsarbeiten durchgeführt, während die anderen Detektoren umgebaut wurden“, sagt Karsten Danzmann, Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut; AEI) und Direktor des Instituts für Gravitationsphysik der Leibniz Universität Hannover. „GEO600 wird sich an O4 beteiligen und die wartungsbedingten Beobachtungspausen der anderen Detektoren füllen, während wir weiter Technologien für die Zukunft entwickeln.“ Weltweit nutzen alle großen Gravitationswellen-Detektoren inzwischen Technologien, die bei GEO600 entwickelt und getestet wurden.

Mehr Erkenntnisse durch verbesserte Wellenformmodelle

„Dank der hervorragenden Arbeit mehrerer Postdocs und Doktorand:innen in den letzten Jahren haben wir die Genauigkeit, Effizienz und den physikalischen Gehalt unserer Wellenformmodelle erheblich verbessert. Zum ersten Mal können wir die Eigenschaften Schwarzer Löcher innerhalb weniger Tage ermitteln, und bemerkenswerterweise sogar innerhalb weniger Stunden, wenn wir den neuartigen Machine-Learning-Code DINGO verwenden“, sagt Alessandra Buonanno, Direktorin am AEI in Potsdam. „Mit unserer neuen Generation von Wellenformmodellen werden wir im Laufe von O4 Schwarze Löcher identifizieren können, die die Raumzeit selbst mit einem guten Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit herumwirbeln und Gravitationsstrahlung über mehrere höhere Harmonische aussenden.“ Ein Teil des Hochdurchsatz-Rechenclusters Hypatia der Abteilung mit rund 12.000 Rechenkernen wird der LVK während O4 für die Analyse von Gravitationswellensignalen zur Verfügung gestellt.

„Wir haben uns auf O4 vorbereitet, indem wir neue Verfahren entwickelt haben, um bei der Analyse der Daten die genauesten Signalmodelle zu verwenden. Dies wird uns helfen, die Eigenschaften der Schwarzen Löcher, ihre Entstehung und ihr Schicksal besser zu verstehen“, sagt Frank Ohme, Leiter einer unabhängigen Max-Planck-Forschungsgruppe am AEI Hannover. „Während O4 werden wir uns auf die interessantesten Ereignisse konzentrieren: stark rotierende Doppelsysteme von Schwarzen Löchern oder Systeme, an denen Neutronensterne beteiligt sind. Wir werden so viel astrophysikalische Informationen wie irgend möglich ableiten und mit Analysen auf unserem Rechencluster 'Holodeck' unterstützen.“

Die ersten Gravitationswellensignale wurden im Jahr 2015 entdeckt. Zwei Jahre später entdeckten LIGO und Virgo eine Verschmelzung zweier Neutronensterne, die eine als Kilonova bezeichnete Explosion verursachte, welche anschließend von Dutzenden von Teleskopen auf der ganzen Welt beobachtet wurde. Bisher hat das globale Netzwerk mehr als 80 Verschmelzungen von Schwarzen Löchern, zwei wahrscheinliche Verschmelzungen von Neutronensternen und einige Ereignisse entdeckt, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um die Verschmelzung von Schwarzen Löchern mit Neutronensternen handelt. Während O4 erwarten die Forschenden, noch mehr energiereiche kosmische Ereignisse zu beobachten und neue Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Universums zu gewinnen.

Wie bereits bei früheren Beobachtungsläufen werden auch während O4 Hinweise auf Signalkandidaten zeitnah veröffentlicht. Informationen darüber, wie man diese „public alerts“ genannten Meldungen erhalten und interpretieren kann finden Sie unter https://wiki.gw-astronomy.org/OpenLVEM.

Gravitationswellen-Observatorien

LIGO wird von der NSF finanziert und von Caltech und MIT betrieben, die das Projekt konzipiert und aufgebaut haben. Die finanzielle Unterstützung für das „Advanced LIGO“-Projekt wurde von der NSF geleitet, wobei Deutschland (Max-Planck-Gesellschaft), das Vereinigte Königreich (Science and Technology Facilities Council) und Australien (Australian Research Council) bedeutende Verpflichtungen übernahmen und beträchtliche Beiträge zu dem Projekt leisteten. Mehr als 1500 Forschende aus aller Welt sind über die LIGO Scientific Collaboration, zu der auch die GEO-Kollaboration gehört, an dem Projekt beteiligt. Weitere Partner sind unter https://ligo.org/partners.php aufgeführt.

Die Virgo-Kollaboration besteht derzeit aus etwa 850 Mitgliedern aus 143 Institutionen in 15 verschiedenen (hauptsächlich europäischen) Ländern. Das European Gravitational Observatory (EGO) beherbergt den Virgo-Detektor in der Nähe von Pisa in Italien und wird vom Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Frankreich, dem Istituto Nazionale di Fisica Nucleare (INFN) in Italien und dem National Institute for Subatomic Physics (Nikhef) in den Niederlanden finanziert. Eine Liste der Gruppen der Virgo-Kollaboration finden Sie unter http://public.virgo-gw.eu/the-virgo-collaboration/. Weiterführende Informationen finden Sie auf der Virgo-Website unter https://www.virgo-gw.eu.

KAGRA ist ein Laserinterferometer mit einer Armlänge von 3 km in Kamioka, Gifu, Japan. Gastinstitution ist das Institute of Cosmic Ray Researches (ICRR) der Universität Tokio, und das Projekt wird vom National Astronomical Observatory of Japan (NAOJ) und der High Energy Accelerator Research Organization (KEK) mitbetreut. Die KAGRA-Kollaboration besteht aus über 480 Mitgliedern aus 115 Instituten in 17 Ländern und Regionen. Allgemeine Informationen zu KAGRA finden Sie auf der Website https://gwcenter.icrr.u-tokyo.ac.jp/en/. Ressourcen für Forschende gibt es auf https://gwwiki.icrr.u-tokyo.ac.jp/JGWwiki/KAGRA.

Hintergrundinformationen

Erwartete Signale

Voraussichtlich werden während O4 die Signale von verschmelzenden Paaren kompakter Objekte das „täglich Brot“ der Gravitationswellenastronom:innen sein. Wie bei den drei vorangegangenen Messläufen erwarten die Forschenden, dass die meisten Signale von Doppelsystemen Schwarzer Löcher stammen, während Entdeckungen von verschmelzenden Neutronensternpaaren oder gemischten Systemen sehr viel seltener sein dürften. Im Idealfall lassen sich für jedes dieser Signale detaillierte astrophysikalische Informationen über die Systeme und ihre Bahnen ableiten. Zusätzliche Informationen können durch die Kombination mehrerer Beobachtungen gewonnen werden.

Auch eine nur geringfügige Erhöhung der Empfindlichkeit der Detektoren hat große Auswirkungen auf die Anzahl der Signale, die sich beobachten lassen. Wenn sich die Empfindlichkeit der Detektoren um nur 25 % steigert, verdoppelt sich der Teil des Universum, aus dem die Detektoren Signal erfassen können. Das bedeutet, dass sich auch die Entdeckungsrate ungefähr verdoppelt.

Mit erhöhter Empfindlichkeit wird auch die Beobachtung von noch nicht entdeckten Arten von Gravitationswellenquellen wahrscheinlicher. Kontinuierliche Gravitationswellen, zum Beispiel von deformierten, schnell rotierenden Neutronensternen, sind ein solcher Signaltyp. Ein weiterer Kandidat ist ein Gravitationswellenhintergrund, der z. B. durch eine sehr große Anzahl von einzelnen, unaufgelösten Signalen erzeugt werden könnte.

Genauere Modellierung zur Entschlüsselung weiterer Informationen

Erfolgreiche Suchen, die korrekte Identifizierung der Quellen und die genaue Bestimmung ihrer astrophysikalischen und kosmologischen Eigenschaften erfordern eine detaillierte Kenntnis der erwarteten Wellenformen. Die zunehmende Empfindlichkeit der Detektoren muss sich in genaueren und physikalisch vollständigeren Gravitationswellenmodellen widerspiegeln, die dennoch rechentechnisch effizient sein sollten. In den letzten Jahren wurden immer genauere Wellenformmodelle und neue Methoden zur Datenanalyse entwickelt, die es den Wissenschaftler:innen ermöglichen, mehr Informationen aus den Daten zu gewinnen. Sie verbessern insbesondere die Genauigkeit bei der Ermittlung der Spinpräzession und erhöhen die Anzahl der höheren Harmonischen – und sind um ein Vielfaches schneller als zuvor. Um die erwartete große Anzahl von Entdeckungen zu bewältigen, wurde auch ein neuer Ansatz für die schnelle Entwicklung und Erstellung neuer Modelle entwickelt.

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